Zum Artikel vom Jahreswechsel 2021/22 folgt nun auch zu diesem Jahreswechsel eine kleine Fortsetzung zu dem Thema, wie man mit der Yogapraxis, wie sie im Buch „Die Seelendimension des Yoga“ von Heinz Grill dargestellt ist, neue Perspektiven für die Zukunft entwickeln kann.
Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind traditionell auch als die Rautage oder Raunächte bekannt, als eine Zeit, die geeignet ist, um neue Ziele, Visionen, Vorsätze für das kommende Jahr aufzubauen. Es ist so ähnlich, wie wenn man mit seinen Gedanken und Überlegungen einen Samen in die winterliche ruhende Erde legt, der sich dann im Laufe des Jahres zu einer Pflanze entfaltet.
Womit beginnt etwas? Was ist der Anfang einer Sache? Was ist, bevor ein Haus entsteht, bevor ein schönes Essen auf dem Tisch ist, bevor eine sichtbarer Gegenstand vorhanden oder eine Arbeit abgeschlossen ist? Es ist immer eine Idee oder ein Gedanke, der den Anfangsimpuls gibt (siehe auch das Beispiel Kopfstand), und die ruhige Zeit um den Jahreswechsel kann ideal dafür genützt werden, sich ausführliche Gedanken über die Zukunft zu machen.
Wie geht das, dass man mithilfe von Yogaübungen neue Möglichkeiten für die Zukunft herbeiführen kann bzw. Impulse und Anregungen dafür findet?
Es ist folgender Vorgang: Man setzt sich beispielsweise mit den Beschreibungen zu den Yogaübungen aus dem Buch „Die Seelendimension des Yoga“ auseinander und studiert damit Inhalte und Gedanken ein, die bestimmte Lebensgesetze, seelische Erlebensformen, feinere Zusammenhänge oder menschliche Fähigkeiten ausdrücken, die für den Menschen, das Sozialleben und die gesamte Entwicklung wichtig sind. Die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten verbunden mit ihrer praktischen Ausgestaltung in der Übung tragen tatsächlich dazu bei, dass mit der Zeit die eigenen schöpferischen Möglichkeiten mehr genützt werden können und der Blick zum Leben freier und tiefgründiger wird, sodass man ganz natürlich Aufgaben, Interessen und wertvolle Lebensziele mehr sehen lernt und auch mehr Mut zur Umsetzung hat. Einfach ausgedrückt wird die Seele angesprochen und aus dieser heraus eröffnen sich ganz automatisch neue Perspektiven für das Leben und auch die Kraft, diese wirklich konkret ins Auge zu fassen und Schritt für Schritt zu realisieren. Man erkennt beispielsweise auch, dass die Perspektive oft gar nicht im „Was“, also in einer neuen äußeren Sache liegt, sondern mehr im „Wie“ und in den Werten und Qualitäten, die man neu in bisher Bestehendes hineinlegen lernt.
Dabei kann man auch entsprechend dem von Erich Fromm geprägten Haben oder Sein erwägen, dort vielleicht auch nachlesen*, und sich fragen: Will man Vorsätze und Ziele kreieren, die mehr im Sinne des Habens oder mehr im Sinne des Seins sind?
Zudem ist eine weitere Unterscheidung wertvoll und aufschlussreich: Wann ist eine Idee klar, lebendig, vielseitig und deutlich in der Vorstellung und wann ist etwas nur ein sehnsüchtiger Wunsch? Beim sehnsüchtigen Wunsch bleiben der Wille und das Denken und die Gefühle noch wie gefangen und die Kraft zur Umsetzung bleibt aus. Dagegen kann sich aus einer klaren Idee und klaren Vorstellung auch eine freiere Handlungskraft entfalten.
Der Fisch, matsyasana
Die Yogaübung der Fisch drängt sich für dieses Thema und auch für den Jahreswechsel beinahe auf, denn sein Inhalt liegt in der Bedeutung des Gegenwärtigseins und in der Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gerade zum Jahreswechsel wird stärker bewusst, dass ein Jahr vergangen ist und ein neues bevorsteht und „die Zeit dazwischen“ wie eine Pause ist, in der eine Neuorientierung erfolgen kann.
Im Fisch befindet sich der Körper in Bodenlage in einer zentrierten Form. Der Brustkorb ist weit angehoben, der Kopf fällt zurück und ruht auf dem Scheitel und die Hüften und Beine bleiben ebenfalls schmal und ruhig auf dem Boden. Diese drei Regionen - Kopf, Brustregion, Bauch/Beine - werden mit ruhiger Wahrnehmung sehr genau unterschieden und auch die Spannungsverhältnisse sorgfältig und fein abgestimmt:
- Der Brustkorb als mittleres Glied wird aus der Bodenlage in eine offene Wölbung hochgehoben und dabei die Brustwirbelsäule exakt in einem Punkt zwischen den Schulterblättern aktiv durchgestreckt. Vor allem der Brustraum mit der Lunge hebt sich damit aus einschnürenden Engegefühlen heraus und erfährt eine angenehme Offenheit nach außen.
- Der Kopf neigt sich entspannt nach hinten zurück und ruht mit dem Scheitel auf dem Boden, das Gesicht ist ebenfalls völlig entspannt.
- Nach unten hin über Bauch, Hüften und Beine wird ebenfalls eine ruhige, gelöste, schmale Form beibehalten.
Die zentrierte Durchstreckung in der Brustwirbelsäule mit einer Ausdehnung in Richtung der Schlüsselbeine wird gleichmäßig aufrecht erhalten, während die anderen Körperglieder ruhig und entspannt bleiben.
Mit dieser unterscheidenden und sorgfältigen, ruhigen Spannungsverteilung löst sich die Wahrnehmung ein wenig vom Körper los und man empfindet eine sensible Offenheit nach außen, einerseits körperlich bedingt durch den offen nach außen und oben gewölbten Brustkorb und andererseits durch die genaue wachsame Differenzierung in der Spannungsverteilung und Formung der Übung.
Diese Skizze zeigt die Bewegungsrichtung, wenn man den Fisch sehr stark in die Brustwirbelsäule zentriert: Von oben und unten, also vom Kopf und von den Beinen zieht wie mit einer feinen Anziehungskraft die Bewegung in die Mitte der Brustwirbelsäule und sammelt sich dort wie in einem Punkt. Der Brustkorb kann sich damit weit und offen hochwölben.
Nach der Imagination, dem seelischen Sinnbild, kann der Fisch auch mit der Vorstellung praktiziert werden, dass der Kopf mit den gewohnten Denkmustern der Vergangenheit entspricht, der Brustraum der Gegenwart und der Bauch und Stoffwechselbereich, dem die Willenskraft zugeordnet ist, der Zukunft. Der Kopf mit dem gewohnheitsmäßigen Denken und allen vergangenen Eindrücken neigt sich zurück, die untere Stoffwechsel- und Willensregion bleibt ruhig in schmaler Bodenlage und der mittlere Bereich mit dem Brustkorb, Herz und Lunge, wird nach oben in eine Wölbung aus der Bodenlage herausgehoben, quasi einer größeren Offenheit oder sinnbildlich gesehen einer größeren Gegenwärtigkeit entgegen. Die Gegenwart ist der sensible Moment, in dem neue Wahrnehmungen oder Vorstellungen aufgebaut werden können und damit ein bewusster neuer Anfang für die Zukunft eingeleitet werden kann. Das Bewusstsein wird dabei mit einem Torbogen verglichen, der zwischen Vergangenheit und Zukunft immer wieder den sensiblen Moment des Aktivseins in der Gegenwart ermöglicht:
„Das Bewusstsein kann mit einem Torbogen verglichen werden, der von dem Menschen selbst errichtet wird. Wenn das Bewusstsein selbst zu einer Ordnung bei sich im Innenraum fähig wird und das Vergangene zum Vergangenen ordnet, das Zukünftige zum Zukünftigen, und das Bewusstsein selbst als aktives Bewusstsein erlebbar ist, dann lässt sich mit jedem Tag jener sensible imaginative Torbogen des Lebens und der Lebenshoffnung empfinden. Immerfort errichtet der innere Mensch dieses Tor, indem er neue Wahrnehmungen, Lernschritte und mutige Handlungen tätigt. Der Fisch beschreibt in diesem Sinne, ähnlich wie das imaginative Tor, die Hoffnung eines geordneten, sich immer in der Gegenwart erfahrbaren Bewusstseinslebens. Nicht zu rasend, zu schnell, tritt der Einzelne in die Zukunft und das bedeutet im übertragenen Sinne, er rennt nicht durch das gegebene imaginative Tor, sondern verbleibt genügend lange in der Ausbildung geeigneter Vorstellungen und setzt diese erst nach einer vernünftigen Zeit um.“ **
Somit ist der Fisch eine Übung, die Hoffnung und Zuversicht für die Zukunft schenkt, denn man erfährt, dass man kraft seines eigenen Bewusstseins in jedem gegenwärtigen Moment aktiv selbst etwas machen kann und man nicht in sehnsüchtigem Hoffen auf bessere Lebensumstände oder fremde Hilfe warten muss.
Der Fisch ist eine gesundheitsfördernde und fortschrittliche Stellung.
Die Mobilisierung und die zentrierte Durchstreckung der Brustwirbelsäule, die oft blockiert und verhärtet ist, ist dabei ebenfalls ergänzend sehr wertvoll.
Wo und wie findet man denn nun wirklich die neuen Perspektiven für die Zukunft?
Als eine Grundlage, damit sich neue Perspektiven überhaupt eröffnen können, braucht es meiner Beobachtung nach immer einerseits eine selbständige innere, seelische Aktivität mit eigenen, auch brennenden Fragen zum Leben und andererseits eine inhaltliche Anregung durch geeignete Texte, wie hier mit dem Beispiel vom Fisch versucht wurde darzustellen. Indem man solche Gedanken zu denken und erforschen beginnt, setzt man im eigenen Bewusstsein sehr bewegte Prozesse in Gang, die neue Wahrnehmungen und Empfindungen und damit neue Möglichkeiten eröffnen. Die neue Perspektive scheint nicht in erster Linie durch eine äußere Lebensveränderung (zB eine neue Arbeitsstelle) zu kommen, sondern von der seelischen Seite bzw. der eigenen Bewusstseinsaktivität verbunden mit guter inhaltlicher Anregung von außen.
* Erich Fromm, Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft
** Heinz Grill, Die Seelendimension des Yoga